Sommer, Sonne und Pfadfinder aus aller Welt
Die Sonne steht hoch am blauen und wolkenlosen Himmel, der Geruch nach Lagerfeuer liegt in der Luft, eine Gruppe Pfadis sitzt und liegt im Schatten der Jurte. Die einen dösen, die anderen singen zu den Klängen zweier Gitarren von Fahrten im Norden – ein ganz normaler, ruhiger Sommerlagertag. Plötzlich übertönen Bässe und E-Gitarren die Fahrtenlieder, ein Taiwanese kommt zu den faulenzenden Pfadis und will Abzeichen tauschen, drei kleine Däninnen suchen Interviewpartner, um das „Friendship forever“-Abzeichen zu erhalten.
Ganz normale Sommerlagertage sehen anders aus!
Aber wir befinden uns hier ja auch nicht auf einem ganz normalen Sommerlager, sondern auf dem Spejdernes Lejr 2012, dem nationalen Jamboree von fünf dänischen Pfadfinderbünden, das mit 35.000 Teilnehmern das größte Pfadfinderlager der dänischen Geschichte ist. Nicht nur Dänen sind der Einladung gefolgt: Etwa ein Siebtel der Teilnehmer stammt aus 40 Ländern aus der ganzen Welt. Neben uns Deutschen tummeln sich auch Pfadfinder aus Tunesien, Bulgarien, Kanada, Uganda und sogar Neuseeland auf dem Lagerplatz. Dieser liegt nahe der dänischen Kleinstadt Holstebro, die durch das Lager ihre Einwohnerzahl locker verdoppelt, und hat eine Fläche von ca. 7,7 Millionen Halstüchern – ziemlich groß also.
Die BPS ist mit 65 Teilnehmern aus acht Stämmen von Stuttgart bis Hamburg vertreten, die das Lager über eine große Koch- und Wohngemeinschaft bilden und sich im Unterlager Teltrup im Stormpløkkens-Viertel mit ihren Jurten breit gemacht haben. Auch 20 Turmfalken besuchen – dank der Unterstützung von Naspa-Stiftung und Stiftung Volksbank Usinger Land sowie der Projektförderung des Landes Hessen – das Lager: Die beschwerliche Anreise über Nacht im vollgestopften Sechserabteil hat niemanden davon abgeschreckt, an diesem Großereignis teilzunehmen. Direkte Nachbarn und Gastgeber der BPSler sind die Pfadfinder des Danske Baptisters Spejderkorps (DBS) aus Århus, Esbjerg und Odense, mit denen es auch in der Vergangenheit schon viele gemeinsame Lager gab. Ebenfalls direkter Nachbar ist die Chillout- und Party-Area „Dokken“, die Singerunden und das nächtliche Schlafen (hier allerdings gemeinsam mit lauten Schnarchern) erheblich erschwert und so manchen Pfadfinder darüber nachdenken lässt, ob man sich hier eigentlich auf einem Pfadfinderlager oder nicht doch eher auf einem Festival befindet.
Denn auch die Großveranstaltungen haben hier Festival-Charakter: Bei der Eröffnungs- und der Abschlussfeier strömen tausende Pfadfinder mit Hemden und Halstüchern in allen Farben zur großen Bühne „The Scene“ und werden von bekannten (na ja, zumindest in Dänemark bekannten) Comedians durchs Programm geleitet, während Politiker, die Schwester der Königin und andere Prominente ihre Grußworte an die Teilnehmer richten. Auch einige dänische Bands haben während der beiden großen Zeremonien sowie bei den Partys, die für die unterschiedlichen Altersgruppen stattfinden, ihren Auftritt. Wobei die älteren BPSler eindeutig den Auftritt von zwölf gegrillten Ochsen auf der Erwachsenen-Party am eindrücklichsten finden.
Trotzdem ist und bleibt das Lager natürlich ein Pfadfinderlager, und so gibt es eine beinahe endlos wirkende Auswahl an Aktivitäten, bei denen für jedes Pfadfinderherz etwas dabei ist: Während die einen bei der „Food Troop“ schmackhafte Gerichte mit frischen Zutaten über dem Lagerfeuer zubereiten, gehen die anderen mit des Sea Scouts im Hafenstädtchen Struer segeln oder Kajak fahren, und wieder andere müssen beim „Epic Adventure Race“ – einer Art Orientierungs- und Hindernis-Lauf mit vielen kniffligen Aufgaben – all ihre Pfadfinderfähigkeiten einbringen. Aber auch weniger traditionelle Pfadfinderaktivitäten wie GPS-Läufe oder aber der riesige Flashmob in Holstebro, bei dem die ca. 2.000 teilnehmenden Pfadis über mp3-Player Anweisungen bekommen, haben ihren Platz auf dem Lager. Und dann sind da natürlich noch die Strände in Struer und Thorsminde, die bei dem herrlichen Sommerwetter besonders beliebt sind und zum Baden im Limfjord bzw. in den Wellen der Nordsee einladen.
Am schönsten aber ist es eigentlich, in der freien Zeit– von der es zum Glück reichlich gibt – über den riesigen Lagerplatz zu schlendern, dabei die verschiedenen Unterlager zu durchstreifen und Pfadfinder aus aller Welt kennen zu lernen. Außerdem gibt es auf dem Lager eine Vielzahl von Großbauten aus Fichtenstämmen und Seil zu bestaunen, darunter viele Lagerbauten, die berühmten dänischen Bauten wie der Brücke über den Großen Belt, dem Runden Turm in Kopenhagen oder dem Museum ARoS in Århus nachempfunden sind. Insbesondere vom Turm aus hat man dabei eine einzigartige Aussicht über den Lagerplatz. Etwas weniger turbulent geht es die meiste Zeit über in den Unterlagervierteln zu.
Ein guter Platz zum Herumlaufen ist der „Spejdertorvet“, der eine Art Hauptstraße des Lagers darstellt. Hier wehen die Flaggen aller teilnehmenden Nationen, das Lagerradio sendet live, die Bibliothek lädt zum Lesen ein, dänische Postbeamte stempeln hunderte Postkarten mit dem lagereigenen Poststempel, ugandische Pfadfinder informieren über die Malariabekämpfung in ihrem Heimatland, zwei große Pfadfinder-Outdoor-Geschäfte (natürlich in Zelten) und ein Supermarkt bieten genügend Möglichkeiten, Kronen loszuwerden, und im Kulturhus kann man gemütlich einen Kaffee trinken. Wer das Bedürfnis nach Ruhe hat, kann die Kirche auf dem Spejdertorvet besuchen, und für die muslimischen Pfadfinder steht direkt daneben die Lagermoschee.
Alles in allem herrscht auf der Hauptstraße ein ziemlicher Trubel, denn auch viele Nichtpfadfinder kommen für einen kürzeren oder längeren Besuch auf dem Lager vorbei. Dabei werden nicht nur Omas und Opas von Lagerteilnehmern, Bürgermeister, die die Pfadfinder aus ihrem Dorf besuchen wollen, und die Schwester der dänischen Königin gesichtet, sondern (von ein paar britischen Pfadfinderinnen) auch Cameron Diaz – die sich nach einiger Zeit zur Enttäuschung der Britinnen allerdings als dänische Premierministerin entpuppt.
Etwas weniger turbulent geht es die meiste Zeit über in den Unterlagervierteln zu. Hier kann man gemütlich in der Sonnefaulenzen (BPSler, die die letzten beiden BuLas miterlebt hatten, wussten schon gar nicht mehr, wie sich so etwas anfühlt), mit den Nachbarn ein Schwätzchen halten, ausgiebig Pfadfinderlieder singen und natürlich das köstliche Essen der beiden eigens mitgebrachten BPS-Lagerköche probieren (sehr empfehlenswert!). Am Unterlagertag geht es dann auch in den Unterlagervierteln richtig bunt zu. Die verschiedenen Stämme haben sich allerlei Stände und Aktionen ausgedacht und so kann man bei den Norwegern auf Rennpferde setzen, bei den Walisern bowlen und minigolfen oder sich bei den dänischen DBS-Pfadfindern wie ein Pfadfinder zu Baden Powells Zeiten fühlen. Nachmittags konzentriert sich im Viertel Stormpløkken dann alles darauf, es mit dem längsten Stockbrot aller Zeiten ins Guinness-Buch der Rekorde zu schaffen. Und tatsächlich lohnt sich die Mühe – mit 49,7 m wird der alte Rekord eindeutig geknackt!
Auch wenn vieles an diesem Lager alles andere als normal ist – eins ist doch auf allen Pfadfinderlagern gleich: Das Ende kommt viel zu schnell. Um es den Pfadfindern ein bisschen leichter zu machen, vom Lagerleben und den neuen Pfadfinderfreunden aus aller Welt Abschied zu nehmen, reist die Sonne schon einen Tag früher ab und überlässt dem Regen das Feld, sodass die meisten versuchen, so schnell wie möglich einen Platz in Bussen, Autos oder Zügen zu finden. Dort sitzt man im Trocknen und kann die vergangenen Lagertage an sich vorbeiziehen lassen: Den herrlichen Sonnenschein, die im Wind aufgeblasenen Jurten, Pfadfinder aus aller Herren Länder, brühend heiße Lagerduschen, Volleyballspiele mit den skandinavischen Nachbarn und das riesige Zeltmeer, das sich in alle Richtungen ausbreitete. Viele kleine und große Dinge, an die sich alle dankbar zurückerinnern und die Lust machen auf mehr: Wie wäre es mit Norwegen 2013? Oder doch lieber Schweden? Das nächste Großlager kommt bestimmt!
Tina und Rike
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